Wenn weniger mehr ist: Minimalismus in der Fotografie einfangen

Raum zum Atmen kann unstrukturierte Bildausschnitte in zeitlose Bilder verwandeln. Die Profi-Fotografen Joel Santos und Vladimir Rys teilen ihre besten Tipps für minimalistische Fotoaufnahmen.
Schnee fällt auf eine Figur, die auf der Chinesischen Mauer steht und einen auffälligen pinken Regenschirm hält. Aufgenommen von Joel Santos.

„Die meisten meiner früheren Fotos habe ich mit einer Canon EOS 300D und einem 18-55mm Objektiv geschossen“, berichtet Reisefotograf Joel Santos. „Nahezu jeder kann seine Füße bewegen und Elemente aus dem Bildausschnitt entfernen. Man muss nur kreativ sein. Kreativität ist für jeden erreichbar. Du braucht nicht allzu viel Ausrüstung und solltest dich niemals von dem, was du hast, zurückgehalten fühlen.“ Aufgenommen mit einer Canon EOS 5D Mark III (mittlerweile ersetzt durch die Canon EOS 5D Mark IV) mit einem Canon EF 24-105mm f/4L IS USM Objektiv (mittlerweile ersetzt durch das Canon EF 24-105mm f/4L IS II USM) bei 28 mm, Verschlusszeit 1/80 Sek., Blende 1:11 und ISO 800. © Joel Santos

Fotografen mit einem Auge für Minimalismus scheuen nicht davor zurück, ihren Bildausschnitt zu verschieben und die Elemente einer Szene auf das Wichtigste zu reduzieren. Wenn das gelingt, kann das Ergebnis Einfachheit und Anmut ausstrahlen – etwas, das die Komplexität des menschlichen Verstands oft zur Ruhe bringt, wenn es in einem Bild eingefangen wird. Das Bildkonzept „Raum zum Atmen“ kann professionellen Fotografen tolle Möglichkeiten bieten, wenn sie sich der Herausforderung stellen.

Der portugiesische Reisefotograf, Dokumentarfilmemacher und Canon Ambassador Joel Santos vereint Abenteuer mit einer Faszination für entlegene Ecken der Welt und den Menschen, die dort leben. Er kombiniert Landschaften und Porträtkunst und erzählt Geschichten an Orten wie der Mongolei, dem Südsudan, Indonesien und Ghana. Er hat neun Bücher geschrieben und wurde 2016 zum Reisefotografen des Jahres gewählt.

Der preisgekrönte Motorsportfotograf und Canon Ambassador Vladimir Rys hat seine Anfangsjahre in der Dunkelkammer verbracht. Sein Portfolio umfasst eine Vielzahl von Themen, doch sein Schwerpunkt liegt seit 2005 auf der Formel 1. Er ist im Jahr etwa 80 Mal mit dem Flugzeug unterwegs, um an Orte wie Monaco und Singapur zu reisen. 2014 wurde er vom Italienischen Verband für Motorsport zum Fotografen des Jahres ernannt.

Hier teilen Joel und Vladimir ihre Tipps und Techniken, dank derer sie mit Minimalismus experimentieren und so unglaubliche Ergebnisse erzielen konnten.

Eine Silhouette eines Formel 1 Autos gegen die Sonne, aufgenommen mit einer Canon EOS R3 mit einem Canon RF 400mm F2.8L IS USM Objektiv von Vladimir Rys.

Vladimir hat dieses Bild während einer Formel 1 Trainingseinheit aufgenommen. „Du lenkst den Fokus des Betrachters und nutzt die Fotografie als Werkzeug, um einen Moment abzubilden und Emotionen zu erzeugen“, berichtet Vladimir. „Ich verwende gerne viel negativen Raum und setze auf Schlichtheit.“ Aufgenommen mit einer Canon EOS R3 mit einem Canon RF 400mm F2.8L IS USM Objektiv mit einer Verschlusszeit von 1/12800 Sek., Blende 1:2,8 und ISO 50. © Vladimir Rys

1. Die Geräusche herausfiltern

Ein minimalistischer Stil kann zu jeder Technik passen. Für Vladimir ist es jedoch essentiell, die Störgeräusche einer Szene zu durchbrechen und sie zu beobachten, um in einer Komposition Raum zu schaffen. „Die Formel 1 ist wahrscheinlich eine der schnellsten Motorsportarten der Welt“, sagt er. „Durch die Geschwindigkeit und die Geräusche ist so viel mehr los. Oft sehe ich, wie Menschen nur durch den Sucher schauen und vieles verpassen. Wenn man als Fotograf den genau gegenteiligen Ansatz verfolgt, also langsam ist, beobachtet und sieht, was der Fahrer mit dem Auto macht, welche Ideallinie er fährt, dann ist genau das wichtig, um Bildern Raum zum Atmen zu geben.“

„Filtere all die Geräusche heraus und konzentriere dich auf die Hauptszene, die sich vor dir abspielt. Bleibe ruhig und fokussiert. Folge deinen Instinkten, um den richtigen Moment einzufangen.“

Ein Mann rennt eine Sanddüne in der indischen Wüste Thar hinauf, weite wellenförmige Sandflächen hinter ihm, auf einem minimalistischen Porträt von Joel Santos.

„Du kannst [für minimalistische Fotografien] ein Makroobjektiv, ein Weitwinkelobjektiv oder ein Teleobjektiv verwenden“, erklärt Joel. „Es geht immer darum, mit dem Inneren dieses Quadrats zu spielen und es zu vereinfachen, in der Regel durch das Entfernen von Elementen.“ Aufgenommen mit einer Canon EOS 5D Mark IV mit einem Canon EF 70-200mm f/4L IS USM Objektiv (mittlerweile ersetzt durch das Nachfolgemodell Canon EF 70-200mm f/4L IS II USM) bei 127 mm mit einer Verschlusszeit von 1/80 Sek., Blende 1:11 und ISO 800. © Joel Santos

2. Eine visuelle Story vereinfachen

„Kompositionen Raum zum Atmen zu geben, ist sehr stark mit dem Konzept des Minimalismus verknüpft“, beschreibt Joel. „Es ist eine Strategie, um eine visuelle Story zu vereinfachen: nicht so, dass sie nur noch ein Punkt auf einer weißen Leinwand ist, sondern mit dem Ziel einer klaren, eindrucksvollen Story. Um das zu erreichen, müssen wir meiner Meinung nach die häufigste Vorstellung von Komposition hinter uns lassen: den Prozess, Elemente zu einem Bildausschnitt hinzuzufügen. Stattdessen musst du dein Umfeld analysieren und überlegen, was du aus dem Bildausschnitt entfernen kannst“.

In Joels Augen sorgen einfache Bilder dafür, dass die Betrachter, und Wettbewerbsjuroren im Speziellen, die Aussage eines Fotografen verstehen.

„Die Welt ist ohnehin ein komplexer Ort, also muss es unser Ziel sein, die Dinge zu vereinfachen“, ergänzt er. „Warum sollten wir das tun? Weil wir Fotos nicht nur für uns selbst aufnehmen. Wenn du mit diesen Fotos beispielsweise an einem Wettbewerb teilen willst, musst du dafür sorgen, dass alle, auch die Juroren, die Aussage der Fotos ohne Bildunterschrift verstehen. Wenn du dein Foto zu komplex gestaltest, gibt es keinen Raum zum Atmen.“

Ein Techniker mit weißen Handschuhen reinigt den Sensor einer Canon Kamera.

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3. Verschiedene Objektive ausprobieren

Im Minimalismus ist weniger mehr und eine begrenzte Ausrüstung kann die Kreativität anregen. Mit Festbrennweiten kann der Prozess beispielsweise vereinfacht werden. Vladimir hat jahrelang mit Zoomobjektiven fotografiert, bevor er zu Festbrennweiten gewechselt ist. „Mein Fotografiestil ist besser für diese Art von Objektiv geeignet. Man bewegt sich viel, bringt sich in Position und findet den geeigneten Bildausschnitt, anstatt nur heran- und herauszuzoomen. Das ist der Unterschied zwischen mir und Agenturfotografen, die schnell sein müssen“, sagt er.

Vladimir ist aufgrund ihrer Geschwindigkeit auf Canons Systemkameras umgestiegen und verwendet jetzt die Canon EOS R3 und die EOS R5. Seine Ausrüstung umfasst außerdem sein Lieblingsobjektiv, das Canon RF 50mm F1.2L USM, das er für Porträts, die Rennstrecke, Landschaften und alles dazwischen verwendet. „Ich verwende Festbrennweiten außerdem, weil man bei Weitwinkelaufnahmen mit kleiner Blende wie 1:1,4, 1:1,8 und 1:2 einen Kino-Look schaffen kann, der mir sehr gut gefällt“, erklärt er weiter. „Das kann als Tool für minimalistische Aufnahmen genutzt werden, weil du den Hintergrund ausblenden und die Aufmerksamkeit auf das Motiv deiner Wahl lenken kannst“.

Joel, der aufgrund ihres idealen Gewichts mit der EOS R5 seine Fotos schießt, bevorzugt das Canon RF 28-70mm F2L USM Objektiv, weil es „optisch hervorragend und wie ein Set Festbrennweiten ist“. „Je mehr du übst, desto mehr wird deine Ausstattung zu einer Ausdrucksweise deines Körpers“, fügt er hinzu. „Ich habe viele Festbrennweiten, aber wenn ich mich für eine entscheiden müsste, wäre es die Canon RF 35mm F1.8 MACRO IS STM, weil sie so dezent ist. Sie ist nicht so lang, dass du bei Umgebungsporträts oder einer Landschaft einen Teil des Motivs wegschneidest. Sie ist aber auch nicht so weit, dass in deinem Bildausschnitt zu viel los ist und du an Tiefe verlierst. Du erhältst die beabsichtigte Schlichtheit. Ein Objektiv kann unendlich viele Interpretationen ermöglichen, solange du dich bewegst und mit den Stärken und Schwächen deiner Ausrüstung spielst.“

Das Bild eines Salzminenarbeiters spiegelt sich im Wasser, während eine Karawane von Dromedaren mitten durch die Szenerie läuft. Ein minimalistisches Foto von Joel Santos.

„Der verfügbare Raum in einem Bild ist begrenzt, und jedes Element im Bild muss einen Zweck haben“, erklärt Joel. „Für mich geht es bei der Komposition nicht um all die Dinge, die man in ein Bild packen kann, sondern um all das, was man weglassen kann, um die Geschichte so eindrucksvoll wie möglich zu erzählen.“ Aufgenommen mit einer Canon EOS 5D Mark III mit einem Canon EF 70-200mm f/4L IS USM Objektiv (mittlerweile ersetzt durch das Nachfolgemodell Canon EF 70-200mm f/4L IS II USM) bei einer Verschlusszeit von 1/200 Sek., Blende 1:4 und ISO 200. © Joel Santos

4. Verwende negativen Raum

Die bewährte Methode zur Verwendung von negativem Raum ist auch eine Technik, die Joel für ausdrucksstarke Bilder empfiehlt. „Wenn du willst, dass dein Motiv die Hauptrolle spielt, kommt es besser zur Geltung, wenn es von mehr negativem Raum umgeben ist“, erklärt er.

Auch Joels wirtschaftlicher Hintergrund und seine Liebe zur Mathematik beeinflussen die Art und Weise, wie er seine Bilder inszeniert. „Ich verwende gerne ungerade Zahlen“, erzählt er. „Eine ungerade Zahl zieht ohnehin schon Aufmerksamkeit auf sich, aber wenn es wie in dem Foto oben eine Reflexion gibt, wird durch die Doppelung eine gerade Zahl daraus. Dieses Zusammenspiel zwischen ungerade und gerade mag ich sehr und verwende es häufig, um meine Fotos minimalistischer zu gestalten. Aber gleichzeitig werden sie auch irgendwie ausdrucksstärker, da sie von Elementen in dem Foto vervielfacht werden.

Ein minimalistisches Porträt eines Mannes, der eine Moschee verlässt, bei wenig Licht und umrahmt von dunklen Schatten. Aufgenommen mit einer Canon EOS R und einem Canon RF 28-700mm F2L USM Objektiv von Joel Santos.

Joel hat dieses Porträt eines Mannes, der nach dem Gebet eine Moschee verlässt, in Niger aufgenommen. Beim Aufnehmen profitierte er von der außergewöhnlichen Leistung bei schlechten Lichtverhältnissen und dem hervorragenden Dynamikumfang des EOS R Systems und der RF Objektiven. Aufgenommen mit einer Canon EOS R mit einem Canon RF 28-70mm F2L USM Objektiv bei 28 mm, Verschlusszeit 1/160 Sek., Blende 1:4 und ISO 6400. © Joel Santos

5. Licht als Hauptzutat

„Wenn du Licht effektiv nutzt, wie ein sehr dunkler Hintergrund, sodass nur die Hauptperson beleuchtet ist, kannst du extrem minimalistische Fotos schießen“, erklärt Joel. „Das ist sehr gut umsetzbar; du brauchst nur kontrastierendes Licht.

„In einer Zeit, in der jeder HDR-Fotos mit all ihren Details aufnehmen will, ist es manchmal ganz gut, nicht all diese Details zu haben. Auf diese Weise kannst du eine starke Silhouette oder das Gegenteil schaffen, so wie ich es bei dem [obigen] in Niger aufgenommenen Foto gemacht habe. Es zeigt einen Mann, der nach dem Gebet eine Moschee verlässt.“

Die Silhouette eines kahlen Baums vor dem Sternenhimmel, aufgenommen in Schwarz-Weiß von Mauro Tronto auf einer Canon EOS R5.

Fotodrucke von Aufnahmen bei wenig Licht und minimalistischen Szenen

Mauro Tronto, Meister der Low-Light-Naturfotografie, teilt seine Tipps für professionelle Drucke minimalistischer Bilder.
Ein entferntes Formel 1 Auto fährt auf der linken Seite einer Rennstrecke, aufgenommen mit einer Canon EOS-1D X Mark II von Vladimir Rys.

„Ich wollte immer Krisen- oder Kriegsfotograf werden, aber ich habe meine Nische in der Formel 1 gefunden“; erzählt Vladimir. „Ich denke, es gibt dabei viele Ähnlichkeiten, was verrückt klingt, aber man muss schnell sein, man muss das Geschehen vorhersagen und auf das Bild bereit sein, bevor es überhaupt entsteht.“ Aufgenommen mit einer Canon EOS-1D X Mark II (mittlerweile ersetzt durch das Nachfolgemodell Canon EOS-1D X Mark III) mit einem Canon EF 400mm f/2.8L IS III USM Objektiv bei Verschlusszeit 1/5000 Sek., Blende 1:2,8 und ISO 50. © Vladimir Rys

6.Schwenken ausprobieren

Eine der gebräuchlichsten und beliebtesten Techniken in der Rennsportfotografie, die in allen Genres zum Einsatz kommen kann, ist das Schwenken mit einer langen Verschlusszeit, so Vladimir. Dadurch entsteht ein minimalistischer Effekt mit klaren Linien. „Wenn du einem Motiv mit deinem Objektiv mit langer Verschlusszeit folgst, eliminierst du im Prinzip alles andere und versuchst, das Motiv, das du fokussierst, scharf zu halten“, erklärt er. „Das ist eine meiner Lieblingstechniken für minimalistische Bilder.

„Die Technik ist eine Herausforderung, aber mit Systemkameras kannst du viel schneller gute Ergebnisse erzielen. Besonders hilfreich ist dabei die Schwenkunterstützung, mit der du eine bessere Trefferquote erreichst. Doch die wichtigsten Faktoren sind Konzentration, eine ruhige Hand und manchmal ein angehaltener Atem, damit du dich nicht bewegst. Es kann etwas dauern, bis man es gut hinbekommt, weil jedes Auto eine andere Geschwindigkeit oder Ideallinie fährt. Es ist also keine einfache Aufgabe. Aber wenn es funktioniert, sind die Ergebnisse eine tolle Belohnung.“

Das sind nur ein paar Beispiele der beeindruckenden Ergebnisse, die du mit einer minimalistischen Herangehensweise an deine Fotografie erzielen kannst. Ob du Elemente aus dem Bildausschnitt entfernst oder mit Licht und Schatten experimentierst: Weniger ist oft mehr, wenn du deinen Bildern etwas Raum zum Atmen gibst.

Lorna Dockerill

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